"Schmiedledick" – Heimatroman oder Rassismus?

 

© Eric Fricke

Mit "Robinson Crusoe" schrieb Daniel Defoe einen Klassiker der Weltliteratur, der noch heute, fast dreihundert Jahre nach Erscheinen der Erstauflage, in keinem gut sortierten Bücherschrank fehlen darf. Defoe hatte 1719 den Grundstein für ein ganzes Literaturgenre gelegt; bis heute taucht das Motiv der Robinsonade auch immer wieder in Hollywood-Produktionen auf, zuletzt in "Verschollen" mit Tom Hanks, dessen "Freitag" ein Volleyball ist.

Ursprünglich als sozialkritisches Werk konzipiert, blieb von Defoes Roman im Wesentlichen noch die Abenteuer-Komponente übrig, weshalb "Robinson Crusoe" über eine lange Zeit nie Gegenstand irgendwelcher Diskussionen war. Lediglich in den letzten Jahren wurden vereinzelte Rassismus-Vorwürfe laut. Begründet wurden sie mit der Darstellung der Eingeborenen, die als "Wilde" und "Menschenfresser" beschrieben wurden. Auch Robinsons Gefährte Freitag muss zum christlichen Glauben konvertieren und dem Menschenfleisch abschwören – natürlich erst, nachdem er sich die englische Sprache angeeignet hat, da Robinson sich offenbar nicht bemüßigt fühlt, heidnisches Kauderwelsch zu lernen. Wozu auch, ist er doch nicht einmal willens, seinen Gefährten mit dessen eigentlichem Namen anzusprechen; es ist ihm nicht einmal der Mühe wert, nach einem vernünftigen Namen zu suchen, sondern er benennt den bekehrten Kannibalen kurzerhand nach dem Wochentag, an dem er ihn davor gerettet hat, von anderen "Wilden" verspeist zu werden.

Freilich wäre "Robinson Crusoe" als aktuelles Werk schlichtweg als rassistisch einzustufen. Für das frühe 18. Jahrhundert indes war Defoes Menschenbild in geradezu revolutionärer Weise tolerant. So lässt er seinen Robinson im Laufe der Geschichte eine Wandlung erfahren; hatte dieser zu Anfang noch ohne jegliche Gewissensbisse einen maurischen Jungen, der ihn gerettet hatte, an einen Kapitän verkauft, beginnt er allmählich zu erkennen, dass es sich bei den "Wilden" ebenfalls um Menschen handelt, die sich, wären sie in einem anderen kulturellen Umfeld aufgewachsen, praktisch nicht von ihm unterschieden.

Natürlich hatte sich Defoe nicht völlig von seinen gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Prägungen frei machen können; auch er reflektierte seine Umwelt mit ihrem christlich zentrierten Weltbild, das die Menschen teilte in jene, die an den christlichen Erlösergott glaubten, und jene, die noch ihrer Bekehrung harrten. Vor diesem Hintergrund ist "Robinson Crusoe" natürlich mit einer gewissen kritischen Distanz – und keinesfalls unreflektiert – zu lesen.

Vieles von dem, was auf "Robinson Crusoe" zutrifft, lässt sich auch auf ein anderes Buch übertragen. Während Defoes Werk aber relativ milde kritisiert und die literarische Qualität stets in den Vordergrund geschoben wird, sieht sich ein anderer Roman seit langem dem massiven Beschuss der Kritik ausgesetzt, was dazu führte, dass er – trotz seiner unbestreitbaren literarischen Qualitäten – über Jahre hinweg nicht mehr verlegt wurde: Elisabeth Walters "Die abenteuerliche Reise des kleinen Schmiedledick mit den Zigeunern".

Der 1930 erschienene Roman, in dem Elisabeth Walter auch zeitgenössische Lokalprominenz wie Hermann Eris Busse oder den Verleger Herder auftreten lässt, erzählt die Geschichte des Hotzenwälder Jungen Schmiedledick, der von Zigeunern entführt wird, damit er den Poppelegeist vom Hohenkrähen erlöst. Die Zigeuner – allen voran Großmutter Mindel als treibende Kraft – erhoffen sich davon, den Schatz des Geistes zu bekommen. Zitat: "Als der Schmiedledick so im tiefen Schlaf lag, nahm die Mindel ein braunes Salbenhäfelein und malte ihn an von oben bis unten, dass er aussah wie ein echter Zigeuner, das Haar, so schön weizengelb es auch war, wurde abgeschnitten und die Stoppeln kohlrabenschwarz gefärbt. An die Beine bekam er zerlumpte gelbe Höslein. [...]. 'Sodili', sprach sie, 'dich können wir gut brauchen zum Betteln und zum Stehlen.'"

Auf den ersten Blick also scheint der "Schmiedledick" vor allem eine Ansammlung von Stereotypen zu sein: Zigeuner entführen Kinder, sie betteln, sie stehlen, sie scheuen ehrliche Arbeit und sie sind faul. Schon alleine die Tatsache, dass Sinti und Roma mit dem Schimpfwort "Zigeuner" bedacht werden, mag dem politisch Korrekten heftig widerstreben. Und waren nicht knapp drei Jahre nach Erscheinen des Buches die Nationalsozialisten an der Macht? War am Ende gar Elisabeth Walter eine geistige Wegbereiterin der Massenmorde an Sinti und Roma in den Konzentrationslagern?

Nichts hätte der in der 1897 in Friesenheim geborenen Autorin und Lehrerin ferner gelegen. Aber wie Daniel Defoe war auch Elisabeth Walter ein Kind ihrer Zeit – und in der war die Bezeichnung "Zigeuner" ein allgemein akzeptierter Begriff; mit "Sinti" und "Roma" hätten allenfalls die Betreffenden etwas anzufangen gewusst. Zweifellos reflektierte auch Elisabeth Walter viele der gängigen Klischees, dennoch war sie bei weitem nicht so in ihnen verhaftet wie viele (oder gar die meisten) ihrer Zeitgenossen. Und wie in "Robinson Crusoe" erlebt man auch in "Schmiedledick" eine Veränderung des Menschenbildes. Beschränkt sich in "Robinson Crusoe" diese Veränderung vor allem auf die Wahrnehmung der Hauptfigur, ändert sich in "Schmiedledick" im Verlaufe des Romans auch deutlich wahrnehmbar die Sicht der Autorin während des Schreibens. Deutlich wird dies vor allem in der Beschreibung der Person der Mindel, die sich von der alten habgierigen Vettel in eine sensible, lebenserfahrene Frau mit starker Persönlichkeit wandelt, die von einem harten Existenzkampf geprägt ist – ohne dass diese Wandlung durch den Verlauf der Geschichte bedingt ist.

Schon kurz nach seiner Entführung ergibt sich für Schmiedledick die Möglichkeit, ins heimatliche Mondwies zurückzukehren. Er aber beschließt, bei den Zigeunern zu bleiben, um den Geist zu erlösen. Ja, er betrachtet sogar die Kinder der Familie, Jenö, Imre und Maria Matuya, als seine Stiefgeschwister. Den gängigen "pädagogischen" Klischees solcher Geschichten zufolge hätte Schmiedledick seine neue Familie nun zu einem "anständigen" Leben bekehren müssen. Das aber hat Elisabeth Walter dem Leser erspart. Schmiedledick, selbst ein Außenseiter in seinem Heimatdorf, akzeptiert die Lebensweise der Familie Weinberg, ohne sich jedoch anzupassen. Immer wieder versetzen ihn die Zigeuner in Erstaunen mit ihrem offenen Umgang mit ihren Gefühlen und mit ihrer tiefen Gläubigkeit. Als die kleine Maria Matuya getauft werden soll, besteht Schmiedledick darauf, dass dies "der Pfarrer von Freiburg" machen müsse. Er wandert von Lehen zum Münsterplatz und spricht einen hohen Würdenträger an, den er für den Pfarrer hält. Und so kommt es, dass Maria Matuya vom Erzbischof getauft wird und den Verleger Herder zum Taufpaten bekommt. Man lasse sich das einmal auf der Zunge zergehen: Ein als "rassistisch" klassifizierter Roman, in dem damals real existierende Honoratioren Angehörigen einer verfemten Minderheit (die sie dies ja schon vor 1933 war) eine hohe Ehre erweisen! Dies dürfte damals in manchen Kreisen zu nicht unerheblicher Empörung, zumindest zu Verstimmung, geführt haben.

Ausgerechnet die "Heimatlosen" vermitteln Schmiedledick die Heimat, durch sie lernt er das badische Land kennen; er begreift, dass "Heimat" mehr ist als ein kleines Dorf im Hotzenwald, auch wenn seine Sehnsucht immer Mondwies gilt. Schmiedledick lernt wie besessen; gierig nimmt er die geologische und kulturelle Geschichte Badens in sich auf – und vor allem lernt er, quasi parallel zu seiner Autorin, vieles über Menschen. Diese Heimatverbundenheit ist für manche Kritiker wohl ebenfalls ein Indiz, dass der "Schmiedledick" in eine bestimmte politische Ecke einzuordnen ist. Da braucht es dann nur noch ein paar Zitate aus alten Volkssagen, in denen germanische Götter vorkommen (Thor hatte nach dem Tode Baldurs das Elztal mit einem Hammerschlag geschaffen), und das Urteil ist perfekt.

Freilich, den "Schmiedledick" darf man ebensowenig unreflektiert lesen wie "Robinson Crusoe". Zu sehr wird man, vor allem im ersten Teil der Geschichte, mit etlichen unsäglichen Klischees konfrontiert. Hier braucht es in – hoffentlich erscheinenden – Neuauflagen eine ausführliche Kommentierung, wie sie inzwischen auch bei Defoes "Robinson Crusoe" üblich ist. Wer jenem aber nicht den Rang eines Klassikers abspricht, dürfte sich schwertun, dem "Schmiedledick" diesen Status zu verwehren.

Mehr noch: Sollte Elisabeth Walter mit dem "Schmiedledick" tatsächlich versucht haben, Angehörige einer Minderheit zu diffamieren, ist ihr dies gründlich misslungen – kaum ein Leser wird umhin kommen, die Familie Weinberg und Großmutter Mindel (die in ihrer Persönlichkeit zuweilen an Terry Pratchetts "Oma Wetterwachs" erinnert) mitsamt ihren ganzen Eigenheiten zu mögen.

27_09_05

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